Einsamkeit

Das Gefühl der Einsamkeit ist eine Tatsache der menschlichen Existenz. Das Kleinkind, das noch kein Individualitätsgefühl entwickelt hat, empfindet noch keine Getrenntheit, solange die Mutter bei ihm ist.

Der enge Hautkontkat läßt keine Einsamkeitsgefühle entstehen. Erst in einem späteren Entwicklungsstadium genügt die Gegenwart der Mutter allein nicht mehr: das Kind erlebt sich und seine Mutter mit wachsender Autonomie nicht als eine Einheit. Fortan muß das Individuum ständig mit einem oder mehr oder weniger stark empfundenen Einsamkeistgefühl kämpfen und daher versuchen, seine Abgesondertheit zu überwinden.

Nach Erich Fromm liegt die eigentliche und totale Antwort auf die Einsamkeit in der zwischenmenschlichen Vereinigung, in der Vereinigung mit einem anderen Menschen, in der Liebe.

Die Überwindung der Isolation durch Konformität oder Anpassung bewirkt nur eine Pseudo-Einheit. Auch der Versuch, die aus der Getrenntheit stammende Angst durch Alkohol oder andere Drogen zu bewältigen, hilft zwar kurzfristig gegen die tief verwurzelte Einsamkeit. Nach dem Rausch - mit möglicherweise intensiven Geborgenheitsgefühlen - tritt sie aber wieder verstärkt auf.

Jeder Mensch hat das Verlangen nach einer intensiven Beziehung zu zumindest einer anderen Person. Die Erwartung aber, daß mit einer Eheschließung diese Problematik für alle Zukunft gelöst sei, entspricht oft nicht der Realität.

Die Flucht vor Einsamkeitsgefühlen in eine feste Bindung endet nicht selten mit der unangenehmen Gewißheit, daß nach der ersten Phase der Verliebtheit sich eine zunehmende Vereinsamung bemerkbar macht. Man ist zwar nicht mehr allein (s. Alleinsein), aber die vielleicht zu oberflächliche Beziehung ändert nichts an dem Bewußtsein der eigenen Einsamkeit.

Wer dann zur lähmenden Passivität neigt, oder sich in hektischen Aktivitäten und oberflächlichen Geselligkeiten verliert, steigert noch zuätzlich sein daseinsbedingtes Einsamkeitsgefühl.

Wenn aber das Bewußtsein der Einsamkeit nicht verdrängt wird, wenn es als Motor dient, zwischenmenschliche Beziehungen aufzunehmen und sie zu vertiefen, dann wird die Hoffnung und Lebenskraft intensiviert. Einsamkeitsgefühle lassen sich schöpferisch verwerten, sie können ein starker Antrieb für die Aufnahme einer tiefgehenden, glücklichen Beziehung sein.

Die Ehe, als umfassendste, intime menschliche Beziehung vermag vielleicht am ehesten Einsamkeitsgefühle zu verringern. Bewußt erlebte Einsamkeit hat die positive Wirkung, daß einem die Augenblicke der Harmonie und Intimität als etwas sehr Wertvolles erscheinen und eine gute Grundlage für eine erfüllte Verbindung bilden.


(von Manfred Saniter)

 

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